Werden die Geisteswissenschaften verdrängt?
„Wir haben zu viele Soziologen und Politologen. Wir brauchen viel mehr Studenten, die sich für anständige Berufe entscheiden, die der Gesellschaft auch nützen.“, bemerkte der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt schon in den 60er Jahren. Die Abwertung geistes- und sozialwissenschaftlicher Studiengänge ist kein neues Phänomen, wenngleich sie im heutigen Klima der zunehmenden Ökonomisierung von Bildung, noch stärker hervortritt und auch Einfluss auf die offizielle politische Agenda gefunden hat.
So wird unterschieden zwischen volkswirtschatlich „nützlichen“ Professionen und solchen, die keinen tieferen Nutzen haben, sondern im Wesentlichen der Selbstentfaltung dienen. Ein_e Ingenieur_in – so die gängige Vorstellung – ersinnt wertvolle technische Neuerungen, die letztlich allen zugutekommen. Ein_e Philosoph_in dagegen endet bestenfalls als Taxifahrer_in. In jedem Fall ist der Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Reichtum minimal und steht in keinem Verhältnis zu den Kosten des Studiums.
Der Gedanke, dass alle Bildung nach ihrer Nützlichkeit für ein Kollektiv bewertet werden sollte, ist zutiefst anti-emanzipatorisch. Doch selbst, wenn die Beschränkung auf das abstrakte Konzept der volkswirtschaftlichen „Nützlichkeit“ hingenommen wird: Wo liegt der volkswirtschaftliche Nutzen der Ideen von Adam Smith und Karl Marx? Lassen sich die Auswirkungen von geisteswissenschaftlichen Revolutionen, wie den Gedanken des Liberalismus und den der Aufklärung, in irgendeiner Weise quantifizieren? Während es uns bei der Erfindung eines neuen, größeren TV-Geräts noch relativ einfach fällt, den volkswirtschaftlichen Nutzen grob zu schätzen, so ist dies bei geistes- und sozialwissenschaftlichen „Erfindungen“ oft so gut wie unmöglich. Das heißt aber keinesfalls, dass der Nutzen für die Menschheit gleich null wäre.
Eng zusammen hängt die Beschränkung auf das Nützlichkeitsprinzip in der Bildung mit dem Trend zur Rationalisierung und Ökonomisierung. Das Studium wird mehr und mehr als reine Berufsausbildung wahrgenommen – sowohl im Verständnis politischer Entscheidungsträger_innen als auch im Selbstverständnis vieler Student_innen, die in ihr „Humankapital“ investieren wollen. Zunehmend wird der Gedanke, dass Bildung auch ein emanzipatorischer Selbstzweck ist, ersetzt durch das reine Nützlichkeitsprinzip und eine kühle Kosten-Nutzen-Rechnung. Die Politik versucht, die Studiengangwahl über Exzellenzinitiativen, Mittelzuweisungen, Einflussnahme der Unternehmen und spezielle Stipendienmodelle nach ihren Vorstellungen zu beeinflußen.
Der Wahn, jeden Studiengang in ein enges Korsett aus Leistungs- und Stundenplanvorgaben zu zwängen, zerstört das Ideal der selbstbestimmten Bildung. Wo nur noch für Creditpoints und für das spätere Einkommen gelernt wird, da steigt die Verachtung für das vermeintlich Überflüssige und Unnütze. All das zeigt bereits Wirkung: Die Anzahl der eingeschriebenen Studierenden an der Philosophischen Fakultät nimmt ab.
Dabei ist die Geringschätzung der Geistes- und Sozialwissenschaften ein großer Fehler: Der Mensch lebt weder allein vom Geist noch allein von der Technik. Nützlich ist nicht das, was das Bruttoinlandsprodukt nach oben treibt, sondern was die Menschen glücklich macht und was ihren Horizont erweitert.
(von Kalle Kappner)
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