Eine andere Sicht auf Behinderung

„Wer im Rollstuhl sitzt oder andere körperliche Probleme hat, ist behindert.“ Dies ist eine weitläufig verbreitete Erkenntnis. Für viele bilden „die Behinderten“ eine klar definierte Gruppe von Menschen. Wer behindert ist und welche Konsequenzen dies mit sich bringt, wäre demnach also leicht erkennbar und ohne Weiteres nicht veränderbar. Dass man es sich mit diesem naturalistischen Bild von Behinderung zu einfach macht, zeigt die Geschichte. Im Laufe der Jahre hat es verschiedene Modelle von Behinderung und viele Sichtweisen auf Behinderte*² gegeben, die ich im folgenden skizzieren möchte, um anschließend auf die dis/ability studies einzugehen.

Während der Entwicklung der Moderne enstand die Kategorie Behinderung. Geprägt wurde diese Sicht von Vorstellungen über Gesundheit und Funktionfähigkeit. Körper wurden und werden nach Nützlichkeit bewertet. Auch um das eigene Gewissen zu beruhigen wurde sich Behinderten dann trotzdem angenommen: Im 19. Jahrhundert entwickelten sich in Deutschland die Hilfsschulen. Diese sollten sicherstellen, dass auch Behinderte, die Möglichkeit erhalten Bildung zu erlangen, wodurch eine Teilhabe am „normalen“ Leben ermöglicht werden sollte. Später wurde die Sicht auf Behinderung systematisiert. Es entwickelte sich das medizinische bzw. individuelle Modell. Die Behinderung lag nun in der einzelnen Person begründet und wurde medizinisch erklärt. Diese schematische Sicht wird immer noch angewendet, wenn es darum geht, Schwerbehindertenausweise auszugeben, Pflegebedürftigkeit zu ermitteln sowie den richtigen Lernort für Schüler_innen festzulegen. Wichtig ist dieses Modell also vor allem innerhalb des „Rehabilitationsparadigmas“, bei dem es darum geht Menschen eine Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei wird jedoch nicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingegriffen und eine Vebesserung der Lebensqualität für alle findet statt.

Behinderung wurde bis dahin nur in eine Richtung gedacht. Dies wurde ab den 1970er Jahren vor allem von sozialen Bewegungen, wie etwa der Krüppelbewegung, kritisiert. Diese bezogen weitere Kriterien in ihr Bild von Behinderung mit ein. Behindert war man nicht, sondern behindert wurde man. Die Schlussfolgerung aus dieser Annahme ist das Ziel, nicht den Menschen an die Umwelt anzupassen, sondern die Umwelt an den Menschen. Daraus entstand das soziale Modell von Behinderung, das, vergleichbar zu den Gender Studies, die von Sex (biologisches Geschlecht) und Gender (soziales Geschlecht) sprechen, eine Aufteilung in Impairment (Schädigung) und Disability (Behinderung) vornimmt. Nicht nur der biologische Faktor gibt also den Ausschlag, sondern wie gesellschaftlich damit umgegangen wird. Mittlerweile hat sich das soziale Modell von Behinderung in der Politik ein Stück weit durchsetzen können. Neue Gebäude sollen barrierefrei, also mit dem Rollstuhl begehbar sein, in Museen gibt es elektrische Spulen, die eine Tonübertragung für Hörgeschädigte erleichtern, Internetseiten sollen auch für Blinde problemlos nutzbar sein und Sprache soll so eingesetzt werden, dass alle sie verstehen können. All dies sind Punkte, die zwar angestrebt, aber nur in Ansätzen umgesetzt werden.

Was sind dis/ability studies? Dis/ability Studies sind eine interdisziplinäre Wissenschaft, die vor allem sozial- und kulturwissenschaftliche Methoden nutzt, um erstens die Konstruktion von Behinderung und zweitens die Konstruktion von Normalität aus der Sicht von Behinderung zu erforschen. Sie gehen der Fragestellung nach, wie gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen die soziale Randgruppe der Behinderten geschaffen haben und schaffen. Dies tun sie, indem gesellschaftliche, politische, historische und kulturelle Hintergründe untersucht werden.

Wo setzen die dis/ability studies an? Die dis/ability studies sehen im Gegensatz zur Heil- und Sonderpädagogik sowie zur Medizin Behinderung nicht als eindeutig definierte Kategorie an. Da Körper niemals nur funktionstüchtige Maschinen sind, gehen die dis/ability studies von Behinderung als Regel und nicht als Ausnahme aus, dadurch erweitert sich nun das Forschungsfeld von Behinderten auf alle Gesellschaftsmitglieder. Die Fragestellung lautet nun nicht mehr „Wie entsteht Behinderung?“, sondern „Wie wird Normalität konstruiert?“. Dazu werden sowohl gemeinnützige Vereine wie zum Beispiel die „Aktion Mensch“ (vorher „Aktion Sorgenkind“!) sowie deren Werbekampagnen, als auch Institutionen der Gesellschaft untersucht, die auf den ersten Blick nichts mit Behinderung zu tun haben. Wird beispielsweise eine Einkaufsstraße untersucht, könnte man sich die Frage stellen, wie die Schaufenster aufgebaut sind. Betrachtet man das ganze aus der Perspektive, die ein_e Rollstuhlfahrer_in einnimmt, könnte dies interessante Aufschlüsse auf das Bild von Normalität liefern.

Obwohl die dis/ability studies eine noch recht junge Wissenschaftsdisziplin sind, zeigt sich nach einiger Beschäftigung, dass es sich dabei nicht um neue Themen handelt. Allerdings werden einige Themen noch stiefmütterlich behandelt und daher in der Lehre selten wahr genommen. Die dis/ability studies werden dann erfolgreich sein, wenn Behinderte in Forschung und Praxis nicht mehr als Objekte, sondern als Subjekte behandelt werden und die Wissenschaft somit dazu beitragen kann, dass Behinderte ein selbstbestimmtes Leben führen können.

(von Jonas Thiele)

* Die dis/ability studies untersuchen nicht nur disability, sondern aus dem Blickwinkel der disability ebenso die Mehrheitsgesellschaft. Daher wäre es auch möglich von ability studies zu reden.

*²Ich spreche im Folgenden von Behinderten als politische Subjekte, die ihre Anliegen in die eigene Hand nehmen können. Daher benutze ich nicht Formulierungen wie „Menschen mit Behinderungen“ oder ähnliche.